Auf teuflische Weise
verrückt
Theatergruppe „cultura“ zeigt am
Hafen mit „AnSturm“ große Performancekunst
Von Stephanie Drees
HILDESHEIM. Die Menschen laufen in
Scharen über eine graue Hauswand. Sie rennen weg vor der Zerstörung,
werfen die Oberkörper über die Reling von Schiffen, die sie in
sichere Häfen bringen sollen. Und zu ungewissen Zielen. In der
Projektion liegen ihre Bilder wie Schichten übereinander. Die
medialen Dokumente der vergangenen Wochen, dazwischen Gesichter der
Fernseh-Matadore, bestimmt von professioneller Anteilnahme.
Die Dimensionen der Wirklichkeit und
Wahrnehmung sind in der Performance „AnSturm“ auf
teuflisch-durchdachte Weise verrückt. Was heißt in einer
globalisierten, von Informationsfluten fast ertränkten Realität,
Verantwortung? Kann man sie in letzter Konsequenz übernehmen –
wenn schon nicht für andere, dann wenigstens für sich selbst?
Stellt man im Theater Fragen dieser
Art, geht flugs die entlastende Maschinerie der Betroffenheitskunst
los. Migration, das Fremde, der Wohnzimmer-Imperialismus, der in uns
allen steckt, jeder, der sich selbst der Nächste ist. Und dann noch
Shakespeare und sein „Sturm“: ein Kolonisationsdrama, die
Domestizierung des „wilden Mannes“ und die Frage, ob die eigene
Utopie nicht zwangsläufig die des anderen zerstört. Zusammengefasst
könnte man sagen: Das, was die Performer, Sounddesigner und Filmer
der Gruppe „Cultura“ da tun, ist theatraler Wahnsinn. Wie soll so
etwas funktionieren, ohne in das Klagelied des gemütlichen
Weltschmerzes einzustimmen?
In Autos und abgebrühter
Schleuser-Manier beginnt de „Überfahrt“. Am Hafen, einer
Kulisse, die in der Dämmerung von industrieller Trostlosigkeit
gähnt, warten die Vorarbeiter und Chefs in Blaumännern. Die Kälte
kriecht langsam zwischen Kiesbergen und dunklen Ecken hervor, doch
die Herrschaften sind von professioneller Geschäftigkeit. Formulare
müssen ausgefüllt und Fotos geschossen werden, die Anweisungen
sprechen eine fremde Sprache, und kein Stift funktioniert. Willkommen
in der neuen Welt. Das Migrantenschicksal scheint besiegelt.
Der Bruch, das verzwickte Spiel
zwischen Theatralem und Gegenwärtigem, gehört zu „AnSturm“
genauso wie die Poesie. Der Katalog der intermedialen Spielereien,
die im freien Theater nicht fehlen dürfen, ist lang, trotzdem wirkt
nichts kopiert. Nach dem langsamen Aufbaus des Flüchtlingsegos in
musikalischen Wanderungen durch die technokratische Geisterstadt,
werden die Zuschauer zu Eroberern einer Festung, in deren Innerstem
sich eine der bekanntesten Geschichten der Geschichte wiederholt. Als
Schwarzlichttheater, einem kleinen Wunderwerk eines anachronistischen
Bühnenmythos, erzählt „Cultura“ die shakespeareschen Motive von
Vertreibung, Täuschen, Herrschaftsansprüchen und Neubeginn. Hinein-
und herausgescheucht aus den Illusionen, Ängsten und Sehnsüchten
wird der Zuschauer auf dieser beklemmenden und großartigen Reise
immer wieder auf sich zurückgeworfen. Der Blick hinter die
Schattenwand: In einem Ganzkörperanzug aus schwarzem Nylon rudert
das Sinnbild des Fremden, Wer hat Angst vorm schwarzen Mann? Niemand.
Und wenn er tatsächlich kommt?
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