10.05.2011

Kritik von der Hildesheimer Allgemeine Zeitung, 7.Mai 2011

Auf teuflische Weise verrückt
Theatergruppe „cultura“ zeigt am Hafen mit „AnSturm“ große Performancekunst

Von Stephanie Drees

HILDESHEIM. Die Menschen laufen in Scharen über eine graue Hauswand. Sie rennen weg vor der Zerstörung, werfen die Oberkörper über die Reling von Schiffen, die sie in sichere Häfen bringen sollen. Und zu ungewissen Zielen. In der Projektion liegen ihre Bilder wie Schichten übereinander. Die medialen Dokumente der vergangenen Wochen, dazwischen Gesichter der Fernseh-Matadore, bestimmt von professioneller Anteilnahme.

Die Dimensionen der Wirklichkeit und Wahrnehmung sind in der Performance „AnSturm“ auf teuflisch-durchdachte Weise verrückt. Was heißt in einer globalisierten, von Informationsfluten fast ertränkten Realität, Verantwortung? Kann man sie in letzter Konsequenz übernehmen – wenn schon nicht für andere, dann wenigstens für sich selbst?

Stellt man im Theater Fragen dieser Art, geht flugs die entlastende Maschinerie der Betroffenheitskunst los. Migration, das Fremde, der Wohnzimmer-Imperialismus, der in uns allen steckt, jeder, der sich selbst der Nächste ist. Und dann noch Shakespeare und sein „Sturm“: ein Kolonisationsdrama, die Domestizierung des „wilden Mannes“ und die Frage, ob die eigene Utopie nicht zwangsläufig die des anderen zerstört. Zusammengefasst könnte man sagen: Das, was die Performer, Sounddesigner und Filmer der Gruppe „Cultura“ da tun, ist theatraler Wahnsinn. Wie soll so etwas funktionieren, ohne in das Klagelied des gemütlichen Weltschmerzes einzustimmen?

In Autos und abgebrühter Schleuser-Manier beginnt de „Überfahrt“. Am Hafen, einer Kulisse, die in der Dämmerung von industrieller Trostlosigkeit gähnt, warten die Vorarbeiter und Chefs in Blaumännern. Die Kälte kriecht langsam zwischen Kiesbergen und dunklen Ecken hervor, doch die Herrschaften sind von professioneller Geschäftigkeit. Formulare müssen ausgefüllt und Fotos geschossen werden, die Anweisungen sprechen eine fremde Sprache, und kein Stift funktioniert. Willkommen in der neuen Welt. Das Migrantenschicksal scheint besiegelt.

Der Bruch, das verzwickte Spiel zwischen Theatralem und Gegenwärtigem, gehört zu „AnSturm“ genauso wie die Poesie. Der Katalog der intermedialen Spielereien, die im freien Theater nicht fehlen dürfen, ist lang, trotzdem wirkt nichts kopiert. Nach dem langsamen Aufbaus des Flüchtlingsegos in musikalischen Wanderungen durch die technokratische Geisterstadt, werden die Zuschauer zu Eroberern einer Festung, in deren Innerstem sich eine der bekanntesten Geschichten der Geschichte wiederholt. Als Schwarzlichttheater, einem kleinen Wunderwerk eines anachronistischen Bühnenmythos, erzählt „Cultura“ die shakespeareschen Motive von Vertreibung, Täuschen, Herrschaftsansprüchen und Neubeginn. Hinein- und herausgescheucht aus den Illusionen, Ängsten und Sehnsüchten wird der Zuschauer auf dieser beklemmenden und großartigen Reise immer wieder auf sich zurückgeworfen. Der Blick hinter die Schattenwand: In einem Ganzkörperanzug aus schwarzem Nylon rudert das Sinnbild des Fremden, Wer hat Angst vorm schwarzen Mann? Niemand. Und wenn er tatsächlich kommt?

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen